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Historiker: Rau konnte Menschen für die Demokratie einnehmen

«Der Besondere» lautet der Untertitel einer neuen Johannes-Rau-Biografie. Der SPD-Politiker besaß demnach die besondere Gabe, Menschen auch auf der Gefühlsebene von der Demokratie zu überzeugen.

Johannes Rau Thomas_Köhler/dpa

Düsseldorf (dpa) - Der frühere NRW-Ministerpräsident und Bundespräsident Johannes Rau verfügte nach dem Urteil des Historikers Ulrich Heinemann über die besondere Fähigkeit, durch «politische Wärme» Menschen für die Demokratie einzunehmen. «Ein solcher politischer Sinn-Produzent fehlt in der heutigen Zeit», sagte Heinemann, Autor der kürzlich erschienenen Biografie «Johannes Rau: Der Besondere», der Deutschen Presse-Agentur. Rau habe die Gabe besessen, Menschen nicht nur über den Verstand anzusprechen, sondern über Geschichten, persönliche Begegnungen und Nähe auch auf der Gefühlsebene. «Diese politische Gabe fehlt heute ganz generell, dabei wäre sie nötiger denn je.»

Johannes Rau (1931-2006) war der am längsten amtierende Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, der dreimal die absolute Mehrheit für die SPD holte. Er war bekannt für das Motto «Versöhnen statt spalten». «Bei den Beinamen «Versöhner», «Bruder Johannes» oder «der gute Mann von Wuppertal» schwang aber immer auch der Vorwurf mit, er sei konfliktscheu und kein wirklich harter Politiker», sagte Heinemann. «Aber das war er sehr wohl auch. Wenn er nicht machtbewusst gewesen wäre, hätte er sich nicht über Jahrzehnte an der Spitze halten können.»

Raus Macht fußte demnach auf einer unübersehbaren Zahl persönlicher Kontakte. «Er hatte nie eine Hausmacht in der SPD, er war kein eingeschworener Gewerkschafter, kein typischer Sozialdemokrat, sondern kam aus einer links-protestantischen Tradition. Er war darauf angewiesen, unendlich viele persönliche Beziehungen zu knüpfen.»

Ein Hauptkritikpunkt an Rau ist heute, dass er die wirtschaftliche Umstrukturierung des Industrielandes Nordrhein-Westfalen und insbesondere des Ruhrgebiets nicht mit der nötigen Entschlossenheit vorangetrieben und viel zu lange auf die Subvention der Kohle gesetzt habe. Heinemann sieht dies ambivalent: «Es stimmt, dass die Rau-Regierungen von der Kohle-Vorrangpolitik nie abgerückt sind. Wenn wir uns aber verdeutlichen, wie schwer es selbst uns heute noch fällt, den endgültigen Abschied von der Kohle zu vollziehen, dann erahnt man ungefähr, wie schwer das damals war, als an der Kohle noch -zig Tausende Arbeitsplätze hingen.»

Wenn man die prekäre Situation englischer oder nordfranzösischer Altindustrie-Reviere mit dem heutigen Ruhrgebiet und seinen zahlreichen Start-up-Unternehmen vergleiche, dann werde deutlich, dass es eben auch großer Vorteil gewesen sei, den Prozess abzufedern und einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten vorzubeugen. «Die Leute sind nicht ins Bodenlose gefallen, das Sozialbürgertum - wie Rau es genannt hat - hat sich erhalten.»

Die Rau-Jahre seien zudem die Periode gewesen, in der sich in dem noch jungen Bundesland Nordrhein-Westfalen erstmals ein Wir-Gefühl entwickelt habe. Bis dahin habe man sich in erster Linie als Westfale, Rheinländer oder auch noch enger als Düsseldorfer oder Kölner gefühlt, sagte Heinemann. Rau habe dagegen Vielfalt und Bürgergeist als verbindende Werte von NRW herausgestellt und einen Brückenschlag zum reichen Kulturangebot geschlagen. Als die CDU 1985 im Wahlkampf einen Fernsehspot gezeigt habe, in dem ein frustriertes Ehepaar von Nordrhein-Westfalen nach Baden-Württemberg auswandert, habe die SPD dagegen den Leitspruch «Wir in NRW» gesetzt. Damit habe sie den Nerv der Zeit getroffen und die absolute Mehrheit von 52 Prozent der Stimmen gewonnen.

Als Rau 1999 Bundespräsident wurde, hatte er zunächst gar keine gute Presse. In vielen Kommentaren hieß es, er sei aus der Zeit gefallen und werde von der SPD eher aus Mitleid ins Amt gehievt. «Er hat sich dann aber zurückgekämpft, unter anderem über seine Berliner Reden, in denen er zum Beispiel den deutschen Eliten die Leviten gelesen hat», sagte Heinemann.

Dazu kam hohes Ansehen im Ausland, so hielt er im israelischen Parlament eine Rede auf Deutsch. «Es gab keinen deutschen Politiker, der so oft in Israel gewesen ist wie er, wobei er immer auch enge Kontakte zur palästinensischen Seite unterhielt.» Am Ende schied er mit hohen Zustimmungswerten, gerade auch bei jungen Leuten, aus dem Amt. «Aufgrund seines frühen Todes ist er dann aber relativ schnell in Vergessenheit geraten.»

© dpa-infocom, dpa:240408-99-596775/3

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