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Helfer in der Nähe - wie App-Alarmierung Leben retten soll

Alarm aus der Hosentasche: Eine App lotst Ersthelfer bei Herzstillstand zum Notfallort – oft sind sie vor dem Rettungsdienst da. Wie das System funktioniert und warum es mehr Verbreitung braucht.

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Ersthelfer per App: Wie arbeitet Vereine wie Mobile.Retter.Org? Christoph Reichwein/dpa

Essen (dpa/lnw) - Wenn das Herz plötzlich stillsteht, zählt jede Sekunde. Das wissen die meisten freiwilligen Feuerwehrleute im Schulungsraum der Essener Wache längst. Und doch sind sie aufmerksam an diesem Abend: Sie lernen, wie sie mit Erste-Hilfe-Wissen, Smartphone und Zufallsprinzip zu potenziellen Lebensrettern werden.

Als sogenannte Mobile Retter werden sie künftig per App zeitgleich mit dem Rettungsdienst alarmiert – wenn sie sich ahnungslos in der Nähe eines Notfalls befinden. Sie sind damit Teil eines wachsenden Netzes, das sich bewährt hat – das aber laut Notfallmedizinern noch dichter sein müsste, um flächendeckend zu wirken.

2013 als erstes Ersthelfer-Alarmierungssystem dieser Art in Deutschland gestartet, verbindet die App «Mobile Retter» inzwischen rund 22.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in knapp 40 Städten und Landkreisen in sechs Bundesländern.

Sekunden entscheiden über Leben und Tod

Die Rechnung ist einfach: Laut Deutschem Rat für Wiederbelebung erleiden mehr als 120.000 Menschen bundesweit außerhalb eines Krankenhauses einen plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstand. Demnach überlebt nur jeder Zehnte - auch weil der Rettungsdienst im Schnitt neun Minuten braucht, um vor Ort zu sein. Ersthelfer-Apps – in Skandinavien oder den Niederlanden längst etabliert – können entscheidend sein, betonen Experten der Björn Steiger Stiftung in einem Positionspapier.

«Ab drei Minuten beginnt das Hirn zu sterben. Wir müssen diese Lücke stopfen», erklärt Brandoberinspektor Jan Kuhlmann, bei der Essener Feuerwehr zuständig für Mobile-Retter-Schulungen. Als eine der ersten Großstadt-Leitstellen setzt Essen seit einigen Jahren auf das Prinzip der Mobilen Retter. Auf dem Land seien es weite Wege, in der Stadt der dichte Verkehr, der schnelle Hilfe erschwere – und das System umso wertvoller mache, erklärt Kuhlmann.

Qualifizierte Laien sind gefragt

In Essen engagieren sich viele Feuerwehrleute, aber auch Pflegekräfte, Rettungshelfer und Mediziner als registrierte Ersthelfer. «Ein Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein reicht da nicht», so Kuhlmann. «Die Leitstelle muss sicher sein, dass derjenige, den sie da raus schicken, es kann.»

Im Mittelpunkt der Schulung stehen deshalb nicht Reanimationstechniken, sondern technische Abläufe – und die Erfolge: Die über 1.000 Helfer in Essen wurden seit Einführung 2019 etwa 1.900 Mal alarmiert, knapp 550 Mal rückten sie auch tatsächlich aus - und waren im Schnitt nach dreieinhalb Minuten am Einsatzort - oft vor dem Rettungsdienst. 

Die lebensrettende Idee zur App hatte der ostwestfälische Notfallmediziner Ralf Stroop, als er das Blaulicht eines Rettungswagens in seiner Nachbarschaft sah. Ihm wurde klar, dass er früher hätte helfen können – hätte er nur rechtzeitig vom Notfall gewusst. Das war die Initialzündung.

Flickenteppich der Systeme

Längst haben sich eine Reihe von Nachahmern etabliert: Laut Björn-Steiger-Stiftung werden in Deutschland mindestens sechs verschiedene Systeme verwendet, darunter die «Region der Lebensretter», schwerpunktmäßig in Baden-Württemberg aktiv, oder die «Corhelper»-App, die ebenfalls tausende Ersthelfer in die Rettungskette integriert. Schleswig-Holstein hat landesweit ein eigenes System aufgesetzt. 

«Das sind bis jetzt alles Insellösungen - mit unterschiedlichen Standards im Detail und ohne technologieübergreifende Alarmierungsoptionen», sagt Mobile-Retter-Geschäftsführer Stefan Prasse. «Aber uns alle eint das Ziel, Menschenleben zu retten», betont er. 

Notfallmediziner: Brauchen gesetzliche Verankerung

Aktuell arbeiteten die Vertreter der unterschiedlichen Anbieter daher auch weiter daran, gemeinsame Standards zu etablieren: «Dafür müssen nicht alle das gleiche System nutzen, aber die Systeme müssen miteinander verbindbar sein.» 

Doch Technik allein reiche nicht aus: «Passiert nach der Registrierung monatelange nichts, steigt das Risiko, dass die Teilnehmer die App löschen. Dagegen hilft aktives Ehrenamtsmanagement», sagt Prasse. Denkbar sei alles, was mit dem Projekt verbindet: gemeinsame Unternehmungen, Vernetzung über soziale Medien, das Teilen von Erfolgsgeschichten.

Die Notfallmedizin steht hinter dem Retter-Ansatz - und wünscht sich eine flächendeckende und gesetzliche Verankerung. «Diese Apps sind derzeit das wirksamste Mittel, um die Überlebenschancen bei Herz-Kreislauf-Stillständen zu verbessern», sagt Clemens Kill, Leiter des Zentrums für Notfallmedizin in Essen und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Rettungsdienst und präklinische Notfallmedizin (DGRN). 

«Ideal wäre, jeder Bürger wüsste, was zu tun ist – und es auch tut», erklärt er. Die Realität sei aber eine andere: Die Quote der Laienreanimation liegt in Deutschland noch immer hinter der anderer Länder wie Schweden oder den Niederlanden zurück - trotz zahlreicher Bemühungen, die Ausbildung an Schulen zu intensivieren. 

Blaulicht-Familie in die Pflicht nehmen

«Es ist natürlich schwierig, Menschen etwas beizubringen, was sie meist erst Jahrzehnte später brauchen», sagt Kill. Auch der Ansatz, die Anrufer durch das Personal der Rettungsleitstelle am Telefon durch die Reanimation zu leiten, werde nicht an allen Leitstellen zuverlässig praktiziert. 

«Wir müssen die gesamte Blaulicht-Familie in solche Ersthelfer-Systeme einbinden. Auch Polizisten und Feuerwehrleute wissen, wie man reanimiert», fordert Kill. Ob eine Leitstelle mit einer App arbeite, dürfe außerdem nicht weiter dem zufälligen Engagement Einzelner überlassen werden. «Es kann ja nicht sein, dass der Staat, wenn es um Leben und Tod geht, einfach hofft, dass Leute sich zusammentun und etwas auf die Beine stellen», betont er. «Das muss in die gesetzlichen Grundlagen zum Rettungsdienst rein.»

© dpa-infocom, dpa:250601-930-614646/1