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Starker Anstieg antisemitischer Vorfälle: «Tabus fallen»

Viele jüdische Menschen haben wieder Sorge, in Deutschland angefeindet, diskriminiert und attackiert zu werden. Ein neuer Bericht dokumentiert: Antisemitismus wird wieder salonfähig.

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Starker Anstieg antisemitischer Vorfälle: «Tabus fallen» Hannes P Albert/dpa

Düsseldorf (dpa/lnw) - Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist in Nordrhein-Westfalen erneut drastisch gestiegen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) NRW erfasste im vergangenen Jahr 940 Vorfälle. Das ist eine Steigerung um 42 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wie aus ihrem am Mittwoch in Düsseldorf präsentierten dritten Jahresbericht hervorgeht. «Diesen erschreckenden Trend sehen wir leider auch in anderen Bundesländern», sagte NRW-Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne).

Dreiste Übergriffe auf offener Straße

«Die meisten dieser Vorfälle ereignen sich schlicht und einfach auf der Straße», berichtete RIAS-Leiter Jörg Rensmann. Mit 327 Ereignissen sei das im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um 63 Prozent. 

«Das heißt, die Menschen haben heute noch viel weniger als früher ein Problem damit, Antisemitismus auszudrücken», erklärte Rensmann die Zahlen. «Tabus fallen, Scheuklappen fallen. Die Menschen sind noch viel offener antisemitisch - vor allem mit Bezug auf Israel, aber nicht ausschließlich - als früher.»

«Antisemitismus wieder salonfähig»

Auch die Antisemitismusbeauftragte des Landes, Sylvia Löhrmann mahnte: «Dass sich ein Großteil der Vorfälle im öffentlichen Raum ereignet, zeigt, wie salonfähig Antisemitismus geworden ist.» Der Bericht spiegele das Unsicherheitsgefühl der in NRW lebenden Jüdinnen und Juden wider. «Jeder einzelne der 940 Vorfälle ist ein Appell an uns alle, dass wir nicht aufhören dürfen, gegen Antisemitismus vorzugehen.»

Mit 63 Prozent (2023: 56 Prozent) oder 590 Fällen sei Israel-bezogener Antisemitismus der am häufigsten dokumentierte, berichtete Rensmann. Der Krieg in Israel und Gaza biete «eine ganzjährige Gelegenheitsstruktur für antisemitische Vorfälle», erklärte er. «Das bedeutet, dass antisemitische Einstellungen schon vorher vorhanden sind und dann quasi nach einer Gelegenheit gesucht wird, diese auszudrücken.»

Große Sorge und Verunsicherung in den jüdischen Gemeinden bereiteten auch die 101 Übergriffe, bei denen Gedenkorte, die an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern, gezielt angegriffen worden seien. Dies sei ein Anstieg um 74 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Der Schrecken macht sich wieder im Alltag breit

«Was wir heute an Antisemitismus in Deutschland erleben, hätten wir uns hier lange so nicht mehr vorstellen können», beklagte der Geschäftsführer des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, Alexander Sperling. Antisemitismus sei im Alltag der Juden schmerzlich spürbar - «aus allen möglichen Richtungen, ob von links, rechts oder der Mitte der Gesellschaft».

Seit 2021 seien allein in seinem Landesverband jüdische Zentren in Hagen, Gelsenkirchen, Essen, Bochum und in Dortmund Ziel von Anfeindungen und Übergriffen gewesen. «Von den zehn jüdischen Gemeinden in unserem Landesverband war die Hälfte seit 2021 das Ziel solcher geplanter Angriffe oder von Anfeindungen», bilanzierte Sperling. «Es machte sich bei uns seitdem das Gefühl breit, die Einschläge rücken deutlich näher.»

Das Ende der Sicherheit 

Der terroristische Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 sei dann eine Zäsur gewesen für Juden auf der ganzen Welt. «Seit dem 7. Oktober ist das Gefühl der relativen Sicherheit für Juden hier in Deutschland dahin», stellte Sperling fest. Seitdem ist die ohnehin schon hohe Zahl judenfeindlicher Straftaten und Übergriffe noch mal fast explosionsartig gestiegen. 

Schüler und Studierende unter Druck

«Unbeschwertes jüdisches Leben ist momentan fast nur noch in geschützten Räumen wie jüdischen Gemeinden möglich», kritisierte der Verbandsvertreter. «Jüdische Studierende werden an Universitäten drangsaliert und müssen sich rechtfertigen. Jüdische Schüler trauen sich teilweise nicht in die Schule, weil dort ein aggressiv israelfeindliches Klima herrscht.»

Judenfeindliche Propaganda in sozialen Medien

Vor allem bei der massenhaften Verbreitung antisemitischer Klischees im Internet gebe es Interventionsbedarf, mahnte Sperling. «Tiktok ist toxisch.» 

Die Integrationsministerin hielt dagegen, trotz aller Projekte sei es kaum möglich, gegen die Desinformationsflut anzukommen. Aber auch der digitale Raum sei nicht rechtsfrei. Es müsse ein Rahmen geschaffen werden, wie die Netzwerkbetreiber auf Hass und Hetze zu reagieren hätten. 

Der Bericht halte der Gesellschaft einen Spiegel vor und mache sichtbar, was häufig im Verborgenen bleibe: «Antisemitische Äußerungen oder Handlungen finden in allen gesellschaftlichen Bereichen statt, aber sie passieren nicht im luftleeren Raum», unterstrich Paul. Alle Demokraten müssten dagegen angehen: «Die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Nordrhein-Westfalen ist unsere gemeinsame Verantwortung.»

Bericht offenbart verborgenen Antisemitismus 

Die RIAS war vor mehr als drei Jahren von der Landesregierung eingerichtet worden. Ein Großteil der dokumentierten Vorfälle wurde den Angaben zufolge direkt über die mehrsprachige Meldeseite www.rias-nrw.de beziehungsweise www.report-antisemitism.de gemeldet.

Von den insgesamt 940 dokumentierten seien nach Angaben der meldenden Personen 194 Fälle ebenfalls bei der Polizei angezeigt worden. RIAS NRW und die Meldestellen in elf weiteren Bundesländern erfassen auch Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. 

Antisemitismus hat viele Gesichter 

Neben einem Fall von extremer Gewalt wurden demnach 18 Angriffe, 22 Bedrohungen, 61 gezielte Sachbeschädigungen, 56 Massenzuschriften, 228 Versammlungen, fünf Diskriminierungen sowie 549 Fälle von verletzendem Verhalten registriert. Als extreme Gewalt wertet RIAS physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben oder schwere Körperverletzungen zur Folge haben können. 

Als Massenzuschriften werden antisemitische Texte kategorisiert, die an mindestens zwei Adressaten gerichtet sind oder auf andere Weise durch massenhafte Verbreitung ein möglichst großes Publikum erreichen sollen. Auch Texte ohne explizit antisemitische Inhalte würden als Vorfälle aufgenommen, wenn sie an jüdische Adressatinnen und Adressaten verschickt werden, heißt es in dem rund 90-seitigen Bericht. Jede meldende Person könne eine Beratung oder psychologische Unterstützungsangebote erhalten.

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